Die Gegenüberstellung

Foto: Nelly Rodriguez 


Gesetze werden gemacht, um verbogen und gebrochen zu werden – und umgekehrt. Manche der GesetzesbrecherInnen und ihre Motive provozieren dabei Verachtung und Ekel, andere wiederum wecken Sympathien, Verständnis oder gar erotische Fantasien. Ziel einer Gegenüberstellung wäre eigentlich, zu prüfen, ob der Zeuge den Verdächtigen ohne Zweifel wiedererkennt. «Die Gegenüberstellung» hingegen ist eine subjektive Veranstaltung, bei der Sie eingeladen sind, individuell objektiv einen Delinquenten unter einer Gruppe potentiell Verdächtiger auszumachen. Die Frage «Erkennen Sie unter den anwesenden Personen den Täter?» wird dabei zu einem Vorgang, der Überführungen ungeahnter Art provoziert. (Dauer 70 Min.)

"...In locker aneinandergereihten Sequenzen führen die zehn Darsteller sich dem Publikum vor und selbiges an der Nase herum. Eine raffinierte Produktion ist dem Theaterkollektiv Mercimax hier gelungen, ein Essay über Schein und Sein, Opfer und Täter, Austicker, Zufälle, Macht, Ohnmacht, Vorurteile und Geständnisse ... Diese 70 Minuten sind äusserst unterhaltsam, oft lustig, teils knallhart, aber nie langweilig, dank einer spitzenmässigen Dramaturgie, feinen Choreografien und einem Ensemble mit Schalk. Zuletzt sitzt man sich selbst gegenüber. Und dem, was die eigene Denke angerichtet hat mit den angebotenen Szenen." Corina Freudiger, Tagesanzeiger


* Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich (2012) für die Produktion Die Gegenüberstellung und ihre Varianten 8:8-Die Gegenüberstellung und coffee & prejudice


Première Dienstag 13.September 2011, 20h, Rote Fabrik, Zürich

weitere Aufführungen Rote Fabrik Do.15., Fr.16., Sa.17., Di 20., Mi.21., Do.22., Fr.23. September, jeweils 20h

Chollerhalle Zug Sonntag 4. Dezember 2011



Mit Peter Jehle, Klara Kulcsar, Aleksandar Milanovic, Ramin Mosayebi, Remy Schreyer, Ute Sengebusch, Josef Simon, Manuel Speck, Julia Stöter
Künstlerische Leitung Karin Arnold Konzept & szenische Umsetzung Karin Arnold, Jessica Huber Dramaturgie Ariane Andereggen Musik Mischa Robert Bühne & Kostüm Mirja Fiorentino, Judith Steinmann Licht Peter Scherz Bühnenfotografie Nelly Rodriguez Grafik Philippe Weissbrodt Produktionsleitung Cristina Achermann Koproduktion Fabriktheater Rote Fabrik Zürich

Mit freundlicher Unterstützung von Stadt Zürich Kultur, Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Pro Helvetia, Ernst Göhner Stiftung, Kulturförderung Kanton Zug, Migros Kulturprozent, Stadt Zug
 


(Videotrailer und Fotos weiter unten)
 
 

Tagesanzeiger, 15.9.2011

Wie man die eigenen Vorurteile serviert bekommt

"Zürich, Fabriktheater – Es beginnt schon in den ersten Minuten. Wenn die Handvoll Menschen auf die Bühne schreitet, sich im kahlen Raum unter das fiese Neonlicht stellt und regungslos ins Publikum schaut. Da gafft man halt zurück und macht sich seine Gedanken. Ein Dicker steht da. Eine Dünne. Einer mit dunkler Haut, ein Blonder mit Muskeln – ein richtiger Schweizer. Zack! Ein erstes Vorurteil. Ein Jüngling mit Diamant im Ohr, sicher ein Jugo. Zack!

„Die Gegenüberstellung“ eröffnet die Herbstsaison im Fabriktheater. In locker aneinandergereihten Sequenzen führen die zehn Darsteller sich dem Publikum vor und selbiges an der Nase herum. Eine raffinierte Produktion ist dem Theaterkollektiv Mercimax hier gelungen, ein Essay über Schein und Sein, Opfer und Täter, Austicker, Zufälle, Macht, Ohnmacht, Vorurteile und Geständnisse: Dem „Jugo“ nimmt man eher als dem „Schweizer“ ab, dass er seine Freundin abgeknallt hat. Eine Missbrauchsgeschichte wird so grauenhaft glaubwürdig erzählt, dass einem fast schon schlecht wird. Dass hier neben drei Profis auch sieben Laien auf der Bühne stehen, ist smart, denn bei Laien scheint immer ein Stück Authentizität durch – könnte man meinen. Diese hier sind aber besonders schauspielbegabt, geraten nie über ihre Grenzen hinaus und bleiben dadurch undurchschaubar bis zuletzt.
Diese 70 Minuten sind äusserst unterhaltsam, oft lustig, teils knallhart, aber nie langweilig, dank einer spitzenmässigen Dramaturgie, feinen Choreografien und einem Ensemble mit Schalk. Zuletzt sitzt man sich selbst gegenüber. Und dem, was die eigene Denke angerichtet hat mit den angebotenen Szenen. Corina Freudiger


PS
, 15.9.2011
Vorurteil
"Ausgehend von der kriminaltechnischen Gegenüberstellung, weitet Karin Arnold mit Mercimax mit Unterstützung der Choreographin Jessica Huber den Begriff im gleichnamigen Stück immer weiter aus, bis daraus letztlich ein Paradebeispiel für die Darstellung von Diversity wird. Stark.

Körperlich sind sich die drei SchauspielerInnen und sechs Laiendarstellenden so was von überhaupt nicht ähnlich, dass die Ahnung schnell aufkommt, dass die anfängliche konfrontative und titelgebende Gegenüberstellung nur der Anlass ist für eine sich stetig in Spannung steigernde Dramaturgie (Ariane Andereggen) bei gleichzeitiger mannigfaltiger inhaltlicher Ausweitung: Lüge und Wahrheit, Klischee und Vorurteil, Opfer und TäterIn, Voyeurslust und Ekelgrenze, Offenbarungstrieb und Dummschwätzerei, Glauben und Zweifel. Dabei vermeidet es der streng durchchoreographierte und in sich stimmige Abend konsequent und gekonnt, in die Beliebigkeit eines «anything goes» abzugleiten, sondern stellt immer wieder verbal Transparenz über die Tatsächlichkeit her, die zuvor dem Publikum in je nach dem irreführender oder eben offenbarender Weise mehrheitlich ziemlich ungeschminkt vor die Füsse geworfen wurde. Karin Arnold spielt mit der Erwartung des Publikums, führt dieses regelrecht an der Nase rum und hat für diese Spielerei mit ernsthaftem Hintergrund eine ausnehmend gutes Ensemble zusammengestellt: Der reiche Persersohn ist ebenso anwesend wie die Freizeitprostituierte aus dem Ostblock, dem alternden Lüstling und dem perfekt trainierten Banker – nur eben, sind dies die Kurzschlüsse qua optischem Auftritt und haben keinen zwingenden Zusammenhang mit der Realität der Personen. Dabei gelingt es in «Die Gegenüberstellung» offensichtlich mühelos, Statik und Stille ebenso gezielt einzusetzen wie sprachliches und bewegtes Chaos, und als i-Tüpfelchen bewirken die vielen Perspektivenwechsel ein sattes, dichtes, intensives Spiel, das sich bis zum Schluss eigentlich nur steigert. Thierry Frochaux"


NZZ, 15.9.2011
Der Schein trügt, trügt nicht
  
„So viel ist bekannt: Von den neun Personen auf der Bühne haben einige das Gesetz gebrochen. Mehr nicht. Und so bietet denn die Anfangsszene, in der die drei Frauen und sechs Männer mindestens fünf Minuten lang reglos verhassen und dabei unverwandt ins Publikum blicken, viel Raum für Spekulationen. Ist es der junge Secondo in Turnschuhen und Trainingsanzug? Oder der korpulente Alte mit der halblangen Künstlerfrisur? Die unscheinbare Frau Typ Französischlehrerin wohl eher nicht; oder doch? Und um welche Straftaten handelt es sich? Nach dem wortlosen Intro geben die neun Personen Bruchstücke ihrer Biografien preis – um einen Teil der Infromationen sogleich wieder als falsch zu erklären. Und auch bei dem nicht Zurückgenommenen bleibt die Unsicherheit: Ist es nun wahr oder nicht? Mit „Die Gegenüberstellung“ zeigt die Zürcher Gruppe Mercimax um die Regisseurin Karin Arnold ihre dritte Produktion. Das am Dienstag auf der leeren, weissen Fabriktheater-Bühne uraufgeführte Theaterprojekt ist ein raffiniertes Spiel mit unserer Wahrnehmung und Einschätzung anderer Menschen – die oft rein gar nichts mit der Realität zu tun haben. Stichwort Vorurteile: im einzigen witzigen Teil dieser insgesamt beklemmenden „Gegenüberstellung“ spricht Julia Stöter (eine von drei Profi-Schauspielerinnen neben sechs Laiendarstellern) das aus, was alle denken. So sagt sie etwa zum arabisch aussehenden Ramin: „Mit scharf oder mit ohne scharf?“ , während sie den wie ein senkrechter Schweizer Handwerker wirkenden Remy als „Einmal-Stallikon-immer-Stallikon-Remy“ bezeichnet. Mit der Zeit kommt Licht ins Dunkel Der junge Ex-Jugoslawe hat seine Freundin angeschossen, die unscheinbare Dame ihren untreuen Liebhaber umgebracht. Absolut erschütternd ist dier Monolog der sympathischen Krankenschwester am Schluss der 70-minütigen Vorstellung. Sie erzählt, wie sie ihren Mann jahrelang beim Missbrauch der gemeinsamen Tochter unterstützt hat – und sackt dabei förmlich in sich zusammen.“ Anne Suter


Neue Zuger Zeitung, 6.12.2011
Hier fühlt sich selbst der Zuschauer schuldig

Das Theaterkollektiv Mercimax bringt sein Publikum in der Chollerhalle klug und charmant um den Verstand.

Welchem Menschen schenkt man spontan Vertrauen, und wer muss sich erst mühselig aus einer vielleicht unberechtigten Verdachtsfalle herausmanövrieren? «Die Gegenüberstellung», ein Stück des Theaterkollektivs Mercimax, welches im September in der Roten Fabrik uraufgeführt wurde und am Sonntag in Zug gastierte, untersucht die oftmals unreflektierten Mechanismen, welche in der Beurteilung eines Gegenübers ablaufen – anhand der Situation der gleichnamigen kriminalistischen Untersuchungsmethode.

Und es macht von Beginn an eines klar: Akteure in diesem Beurteilungsprozess sind alle Beteiligten, die Verdächtigen sowie die Verdachtschöpfenden – in diesem speziellen Fall das Theaterpublikum. Dementsprechend stehen respektive sitzen sich denn auch beide Gruppen erst mal sehr lange einfach nur gegenüber. In diesen langen, bangen Minuten bekommt auch der oder die Beobachtende im Publikum das unangenehme Gefühl, sich durch ein trockenes Schlucken oder ein Rutschen auf dem Stuhl eventuell verdächtig zu machen. Und dieses Gefühl ist schon richtig, führt dieser Theaterabend doch vor, wie und warum man sich, seiner genau betrachtet, nie ganz sicher sein kann.

Es gilt nun für die sechs Männer und drei Frauen – eine gemischte Truppe aus Laien und Profidarstellern diverser Nationalitäten, Altersklassen und Grössen – , sich in unterschiedlichsten Arten und Weisen zu zeigen. Die Choreografin Jessica Huber hat sich, basierend auf den Gepflogenheiten der polizeilichen Investigation, zu kecken Formierungen und bewegten Zurschaustellungen inspirieren lassen.
Und die Zuschauer müssen hinschauen; es ist Pflicht – und Lust, natürlich. Von Anfang an jedoch ist jeder Entblössung auch ein Moment des Versteckens inne. Und die Frage, ob man wirklich mehr weiss, je mehr man sieht und hört, wird im Verlauf des Stückes immer virulenter. Ein ganz einfaches, aber umso treffenderes Bild fängt diese zentrale Problematik ein: Wortlos ziehen sich alle Personen ganz langsam ihr Oberteil hoch, aber nicht um es auszuziehen, sondern um es sich von vorne nach hinten über den Kopf zu stülpen. So ergibt sich zwar die Sicht auf einige Torsos, dafür aber sind die Gesichter aus dem Blick geraten.

Zur wahrhaftigen Aussage angehalten, deklarieren die Verdächtigen jeweils auf ihren durchnummerierten Plätzen, wenn sie gerade etwas geäussert haben, was nicht der Wahrheit entspricht. Aber tun sie es in jedem Fall? Und heisst Stefan wirklich Stefan? Und was ist mit dem Fall von diesem Mann, der seine Freundin angeblich unbeabsichtigt mit einer Pistole schwer verletzt haben soll? Diesem Fall, welchen die sechs Männer kollektiv gestehen? So wenig sich diese Fragen beantworten lassen, so sehr ertappen sich die Zuschauer in der Neigung, dem einen zu glauben und den anderen als Schummler zu vermuten.

Und während von Seiten der Beurteilenden Voreingenommenheit, Klischeedenken oder auch spontane Empfindungen den Weg zu einer objektiven und damit wirklich gerechten Beurteilung versperren, entpuppt sich auf der anderen Seite die Bemühung der Akteure, erschöpfend Rechenschaft von sich selbst abzulegen, als schiere Unmöglichkeit. «Die Gegenüberstellung» bringt die Dilemmata beider Parteien kumulierend auf den Punkt. Und in ihrer differenzierten Unauflöslichkeit bleibt die Thematik bis zum Schluss des clever inszenierten Abends spannend.“  Stefanie Herzberg

 


Fotos und Videotrailer: Nelly Rodriguez